Im Jahr des Drachen: Mit dem Fahrrad von Laos nach Deutschland

Nach vielen Kilometern durch China, Indien, Pakistan, Thailand, Laos und Japan findet die letzte mehrmonatige Fahrradtour von Laos nach Deutschland statt. Ich war siebenundfünfzig Jahre alt und das Fernweh war zum Heimweh geworden. 

Leseprobe
Im Jahr des Drachen

Der Mann des Hauses wacht früh auf und setzt Wasser auf. Er geht zur Arbeit. Ich mache mir eine Tasse Kaffee, packe, lege für die Kinder eine Stange Kekse auf die Tiefkühltruhe und radele zum Ortsrand. Ein Schlagbaum versperrt den Weg. Zwei Männer in dunkelblauer Uniform stehen neben einem Motorrad an der Schranke, eine uniformierte Frau sitzt im Jeep. Die Männer teilen mir mit, ich könne nicht weiterfahren, der Fahrweg durch die Wüste sei geschlossen. Mir fährt der Schreck in alle Glieder. Das fängt ja gut an! Die Frau fordert meinen Pass und ich reiche ihn ihr durch das geöffnete Fenster. Sie durchblättert ihn. „Sie brauchen ein Erlaubnisschreiben, um weiterfahren zu können“, sagt sie, „warten Sie! Meine Kollegen werden es besorgen!“ Sie gibt den beiden Männern meinen Pass und die knattern auf ihrem Motorrad in den Ort. Ich atme erleichtert auf. Es geht also weiter, wenn alle Formalitäten erledigt sind. Ich bin froh, dass ich mich nicht persönlich um das Permit bemühen muss. Ich nutze die Zeit, um zu frühstücken, koche Haferflocken und trinke noch eine Tasse Kaffee. Endlich kehrt der jüngere der Männer mit meinem Pass und dem benötigten Papier zurück, händigt mir beides aus und öffnet den Schlagbaum. 
Vor mir breitet sich eine riesige, leicht grünlich schimmernde Ebene ohne Baum und Strauch aus. Mehrere, mit Sand gefüllte Fahrzeugspuren verlaufen durch das Gelände. „Oh Herr“, denke ich, „nur Verrückte quälen sich mit einem schwer beladenen Fahrrad über solche Wege.“ Was heißt Weg? Da ist kein Weg! Da sind nur ein paar Spuren, die sich in der Ferne verlieren. Etwa siebenhundert Kilometer bis Ulan Bator liegen vor mir. Der größte Teil der Strecke verläuft durch die Gobi parallel zur Eisenbahnlinie. Wenigstens verirren kann ich mich nicht. 
Flaschen und Wassersack habe ich gefüllt, insgesamt sechs Kilogramm Flüssigkeit sollen mich vorm Verdursten retten. Der Zweilitersack schwappt hinten auf dem Rucksack. Noch nie im Leben hatte ich so viel Wasser dabei. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich die nächste Wasserstelle vorfinde, vermutlich in der nächsten etwa vierzig Kilometer entfernten Siedlung am Bahndamm, die auf der Landkarte eingezeichnet ist. — Diese gewagte Tour, die vor mir liegt, hätte ich niemals in Angriff genommen, wenn ich nicht Christoph, einen jungen Schweizer, 1996 in der chinesischen Provinz Yunnan getroffen hätte. Er war auch mit dem Fahrrad unterwegs. Fasziniert hörte ich seinem Bericht über seine Fahrt von der Schweiz durch Polen, Russland, die Mongolei, China bis Hongkong zu. Die gesamte Strecke hatte er mit dem Fahrrad bewältigt. Von ihm wusste ich, dass eine Tour durch die Wüste Gobi machbar war. Allein wäre ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, durch die Mongolei zu radeln. 
Und jetzt schlingere ich durch den Sand. Die Temperaturen steigen auf sechsunddreißig Grad Celsius. Der Wind ist zahm. Meter für Meter arbeite ich mich über die Piste vor. Nach fünfundzwanzig Kilometern und gut drei Stunden Fahrzeit wird sie ein bisschen fester. Wellblechgeformte Strecken wechseln mit glatten Stücken, auf denen ich ein bisschen schneller bin. 
Ein paar hundert Meter von der Piste entfernt steht eine Jurte in der Wüste. Plötzlich fühle ich mich unwohl. Ich schlage das Zelt auf, obwohl es noch früher Nachmittag ist, und zünde den Benzinkocher an, um mir Tee zu kochen. Ein Reiter kommt des Weges und hält an. Er ist etwa dreizehn Jahre alt. Mit seinen kniehohen Stiefeln sitzt er im Sattel und guckt mir von oben zu. Ich halte ihm meine leeren Flaschen entgegen. Er weist auf die Jurte, die ich bereits passiert habe. Dort könne ich Wasser bekommen. Ich bin zu erschöpft, um mit dem Fahrrad zurückzufahren. Leider hat der junge Reiter keine Lust, Wasser für mich zu holen. Zwei Liter habe ich noch im Wassersack. 
Der Junge steigt ab und setzt sich zu mir. Ich koche Tee und Nudelsuppe und teile meine Mahlzeit mit ihm. Weltmännisch raucht er nach dem Essen eine Zigarette mit, steigt auf sein Pferd und reitet davon. Mein Durst ist unbeschreiblich! Ich koche noch eine Tasse Tee, nippe von dem restlichen Wasser und habe gerade noch genug für eine Tasse Kaffee am Morgen. Mit ausgedörrtem Mund gehe ich schlafen. 
Am Osthimmel steht das große Sommerdreieck, der Große Wagen im Zenit. Das Zelten hier gehört zu den größten Naturerlebnissen, die ich jemals erfahren habe! Die Stille, die Weite und die Leere in der Wüste Gobi sind unübertroffen. Da ist nichts als tiefe Ruhe, nichts, was ablenkt. Da ist nur die Fülle des Daseins. Trotz des Durstes bin ich glücklich. 

 

Buchcover Auf alten Handelsrouten

Im Jahr des Drachen: Mit dem Fahrrad von Laos nach Deutschland

Eine Reise über Land von Laos nach Deutschland, ein Traum, den Mechthild Venjakob verwirklichte: Fast zwölftausend Kilometer radelte sie durch Laos, China, die Mongolei, Russland, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Deutschland. Rund sechstausend Kilometer saß sie in der Transsibirischen Eisenbahn von Ulan Bator nach Moskau. Auf dem Qinghai-Tibet-Plateau erlebte sie eisige Kälte, in der Wüste Gobi Hitze, Durst und die tiefste Stille ihres Lebens. Begeistert erzählt sie von Moskau und St. Petersburg. Sie besuchte die Baltischen Staaten und zeltete in den Wäldern Polens. Nach neun Monaten erreichte sie ihr großes Ziel, ihre Heimatstadt Paderborn. Zahlreiche Reisefotos veranschaulichen ihren packenden Reisebericht.

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