Trotz verschärfter Einreisebestimmungen für Ausländer im Jahr 2008 überwinden wir alle Hürden, besuchen Klöster und heilige Seen und erleben den Kailash, das „Schneejuwel“ der Tibeter, als Krönung unserer Reise.
Leseprobe
Heilige Stätten in Tibet
Vier Ströme Asiens entspringen am Kailash und fließen wie die Speichen eines Rads den Meeren zu: Im Norden entspringt der Indus, im Osten der Brahmaputra, im Westen der Sutlej und im Süden der Karnali. Die Hindus nennen den Weltenberg Kailash, die Tibeter nennen ihn Tise, das „Schneejuwel“. Eine Umrundung reinigt den Pilger von den Sünden des Lebens und dreizehn Umrundungen löschen die Sünden eines Zeitalters aus. Wer den Tise dreizehn Mal auf der äußeren Kora umrundet hat, darf die innere Kora betreten; er nähert sich der geheimnisvollen Mitte. Nach einhundertacht Umrundungen erlangt er die Erleuchtung noch in diesem Leben und durchbricht damit den Kreislauf der Wiedergeburten.
Der äußere Weg um den Kailash ist dreiundfünfzig Kilometer lang. Er wird unter gewöhnlichen Umständen in drei Tagen bewältigt. Die schwierigste Etappe ist am zweiten Tag die Überquerung des etwa fünftausendsiebenhundert Meter hohen Drölma La, des „Passes der Göttin Tara“. Um das Wandern in der extrem dünnen Luft durchzuhalten, muss man gut akklimatisiert sein.
Mit Pasang und Gyeltsen beginnen wir unsere Wanderung in dem gottverlassenen Nest Darchen. Wir laufen auf eine kleine Anhöhe zu, dem ersten der vier Niederwerfungspunkte rund um den Kailash, der durch Gebetsfahnen und eine Mani-Mauer markiert ist. Meistens verbirgt sich der heilige Berg, wie jetzt, hinter Wolken. Es gibt Wanderer, die ihn auf ihrer dreitägigen Tour nicht einmal zu Gesicht bekommen. Im Süden schimmert in der Ferne die blaue Wasserfläche des heiligen Manasarovar-Sees. Hinter ihm ragt die 7694 Meter hohe Gurla Mandhata auf, der Sitz der Göttin der Landwirtschaft. Schneebedeckt und von gigantischen Ausmaßen scheint sie den See unter ihre Fittiche zu nehmen. Die Weite der Landschaft ist immens, in Wellen schwingt sie in braunen, gelben und grünen Streifen hinunter zum See und die Wolken werfen dunkle Schatten darauf.
Männer rennen pfeifend hinter ihren bepackten Yaks her und treiben sie durch das Tal, wandernde Pilger überholen uns, stolze Reiter sitzen in bunten Sätteln und traben ihrem Ziel entgegen. Einige Bönpos kommen uns entgegen. Während Buddhisten ihre Heiligtümer im Uhrzeigersinn umrunden, laufen die Anhänger der Bön-Religion die Kora um den Kailash entgegen dem Uhrzeigersinn.
Der Steig führt hinunter in das Tal des Götterflusses und wendet sich nach Norden. Der Lha Chu, ein Bach, entspringt am Kailash. Grün-weiß plätschert er durch sein steiniges, flaches Flussbett inmitten von Grasflächen nach Süden. Hinter dem Fahnenmast von Tharboche verengt sich das Tal. Felswände rahmen den Götterfluss ein. Der geriffelte riesige Felsenthron zur Linken könnte im Grand Canyon stehen.
Pasang, Gyeltsen und der junge Träger müssen immer wieder auf uns warten, denn in der dünnen Luft kommen Erika und ich nur langsam voran. Dabei ist der Weg einfach zu laufen, er führt stetig leicht aufwärts.
Und da ist er, der 6638 Meter hohe Kailash! Er zeigt seine westliche Seite in voller Breite. Glatte, hohe Felsen rahmen ihn ein. Still, erhaben und unnahbar bildet er den heiligen Mittelpunkt der buddhistischen und hinduistischen Welt. Ein Felsenpalast nebenan gilt als Thron Buddhas. Buddha soll den Kailash an vier Stellen festgenagelt haben, damit die Dämonen ihn nicht forttragen können. Ein niedriger Bergrücken ist als Versammlungsplatz der „Arhats“, der Heiligen, bekannt. Seitlich des Kailash ragt eine spitze Felsenklippe auf, der Palast des Mahakala, einer zornvollen Gottheit. Amitayus, der Buddha des langen Lebens, und Tara, die Retterin und höchste Mutter, bewohnen ebenfalls Felsen im Schatten des Kailash.
Die zwanzig Kilometer lange Tageswanderung wird wegen der dünnen Luft zunehmend beschwerlicher. Immer wieder setzen wir uns hin und schnappen nach Luft. Abgespannt und schlapp kommen wir am zweiten Fußabdruck Buddhas vorbei, einem Niederwerfungspunkt. Wir sind schon viel zu müde, um das Ereignis zu registrieren.
Endlich erreichen wir die Herberge in einer kleinen Siedlung, die direkt unterhalb der Nordwand des Kailash liegt. Oberhalb der Siedlung haben Gruppen ihre Zeltlager aufgeschlagen. In einem der Zeltrestaurants rundum nehmen wir ein einfaches Reisgericht zu uns und trinken einen Becher Tee. Pasang, Gyeltsen, Erika und ich ziehen in ein Vierbettzimmer ein. Mir wird es zu viel, die Kamera zu zücken, um den Kailash zu fotografieren, so kaputt bin ich.
Erika hat Kopfschmerzen und legt sich sofort hin. Der Sherpa einer Gruppe gibt ihr eine Tablette gegen Höhenkrankheit, die nicht viel hilft. Pasang schlägt vor, ein Pferd zu besorgen, um Erika ein Stück tiefer zur nächsten Zeltstadt zu bringen. Doch die Pferdehalter möchten ihre Tiere in der Nacht nicht zur Verfügung stellen, weil die sich auf dem steinigen Pfad zu leicht die Beine brechen könnten. Erika mag ohnehin nicht reiten. Pasang und ein anderer Mann nehmen sie schließlich in ihre Mitte und bringen sie durch die dunkle Nacht ein paar Höhenmeter tiefer, um ihr Linderung zu verschaffen.
Gyeltsen, unser junger Träger und ich gehen am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang gegen acht Uhr zurück. Wie viel einfacher die Wanderung bergab ist! Die beiden laufen schnell, passen aber ständig auf mich auf. Sogar der kleine Träger reicht mir manchmal seine Hand und lächelt mich an. Am frühen Mittag treffen wir alle am „Fahnenmast von Tharboche“ wieder zusammen. Pasang hat einen Jeep organisiert und wir fahren nach Darchen zurück, um dort gemeinsam zu Mittag zu essen.

Heilige Stätten in Tibet: Eine Reise von Lhasa zum Nabel der Welt
Nach Unruhen im gesamten tibetischen Kulturraum im Olympiajahr 2008 flogen Mechthild Venjakob und Erika Nerb im Sommer 2009 von Chengdu, Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan, nach Lhasa. Trotz verschärfter Einreisebestimmungen für Ausländer überwanden sie alle Hürden. Sie besuchten Klöster und heilige Seen und erlebten den Kailash, das "Schneejuwel" der Tibeter, als Krönung ihrer Reise.
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