Anfang der Achtzigerjahre reiste ich durch ein Land, das es heute nicht mehr gibt. China war ein bitterarmes Entwicklungsland.
Immer wieder holte ich mir Erlaubnisscheine, die man für den Besuch der Orte benötigte. Tage und Nächte saß ich in Zügen, oft auf dem "harten Sitz". Ich schaffte es bis in den hohen Norden.
Ein Abstecher führte mich nach Lhasa, der Hauptstadt Tibets. Die Region hatte sich für Einzelreisende gerade geöffnet. Nur in Chengdu gab es ein Permit und man musste nach Lhasa, der Hauptstadt Tibets, fliegen.
Nach Hongkong zurückgekehrt, buchte ich einen Flug auf die Philippinen, um mich an einem der vielen schönen Strände von den Anstrengungen der Chinareise zu erholen. Nach Wochen der Faszination war die "Luft raus".
Leseprobe:
Ein geheimnisvolles Land öffnet seine Pforten
Mein erster Weg am nächsten Morgen führt mich ins Zentrum der Stadt zum Tiananmen Square, dem Platz des Himmlischen Friedens. Ich stehe auf einem überwiegend leeren asphaltierten Feld, dem größten der Erde, aber wahrlich nicht dem schönsten. Am Rande erblicke ich die Große Volkshalle, das Revolutionsmuseum und das Historische Museum. Das Monument der Volksheroen und die Mao-Zedong-Gedenkhalle besetzen die Mitte.
Im Norden dann das Tor des Himmlischen Friedens, das zur »Verbotenen Stadt«, der ehemaligen Kaiserresidenz, führt. Heute hängt über dem Portal ein Abbild des gealterten Mao Zedongs in grauem Hemd, der die kommunistische Partei gründete und nach jahrzehntelangem Kampf gegen Chiang Kai-shek und die Kuomintang siegte. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens rief er 1949 die Volksrepublik China aus. Bis zu seinem Tod am 9. September 1976 lenkte er die Geschicke Chinas und entschied wie ein Kaiser über Leben und Tod seiner Untertanen. Weiße chinesische Schriftzeichen auf purpurrotem Grund überziehen in ganzer Breite die Mauer: Lang lebe die Volksrepublik China! Lang lebe die große Einheit der Völker der Welt!
Nachdem Peking während der Yuan-Dynastie (1279 – 1368) für etwa einhundert Jahre die Hauptresidenz der Mongolen war, gründete der Rebell Zhu Yuanzhang die Ming-Dynastie (1368 – 1644) und vertrieb die Fremden. Er regierte in Nanjing in Südchina. Anfang des 15. Jahrhunderts verlegte der dritte Ming-Kaiser, Yongle Zhou Di, seinen Regierungssitz von Nanjing nach Peking. Er ließ den von den Mongolen errichteten Palast abreißen und erbaute innerhalb weniger Jahre die »Verbotene Stadt«, die größte Palastanlage der Welt.
Er entwarf sie nach geomantischen Gesichtspunkten und als kosmisches Zentrum der Welt, symbolisiert durch die eisenrote Farbe der mächtigen Mauern. Sein Regierungssitz bestand aus 1000 Gebäuden mit 9 999 Räumen, denn nur der Palast des Himmels selbst durfte dem Glauben nach aus 10 000 Räumen bestehen. Pekings Kaiserpalast galt als Drehpunkt der Welt. Vierundzwanzig Herrscher, Söhne des Himmels, regierten das Reich der Mitte von der »Verbotenen Stadt« aus. Kein Gebäude in Peking durfte die kaiserlichen Paläste überragen und niemand, der außerhalb der »Verbotenen Stadt« wohnte, durfte gelbe Dachziegel verwenden, denn Gelb war die Farbe des Kaisers. Der einfache Mann aus dem Volk hatte grundsätzlich keinen Zutritt zur Kaiserresidenz.
Die Verbotene Stadt ist in den Inneren und den Äußeren Hof aufgeteilt, in den offiziellen und den privaten Bereich. Der Besucher betritt sie durch das Mittagstor im Süden. Allein dieses in Hufeisenform gebaute Tor ist mit fünf Pavillons gekrönt und von palastartiger Höhe, Breite und Tiefe. Der mittlere der drei Eingänge war dem Kaiser vorbehalten, durch die beiden anderen schritten die Mandarine und die kaiserliche Familie.
Ich kaufe mir eine Eintrittskarte für etwa 70 Cent und begebe mich wie der Kaiser durch den mittleren Eingang. Im ersten Hof halte ich vor fünf gerundeten Marmorbrücken an. Sie führen über das geschwungene Steinbett des Goldwasserflusses und erinnern an die fünf konfuzianischen Tugenden der Liebe, der Rechtschaffenheit, der Gewissenhaftigkeit, der Ehrlichkeit und der Loyalität. Der Mensch soll Vater, Mutter und Vorfahren ehren, ein sittlich einwandfreies Leben führen und seinem Kaiser treu ergeben sein.
Durch das Tor der Höchsten Harmonie, einem mit geschwungenen Dächern gekrönten Bauwerk, betrete ich den nächsten, den Äußeren Hof, in dem die drei Audienz-Hallen stehen. Die wichtigste, größte und schönste ist die Halle der Höchsten Harmonie mit dem Drachenthron. Ein Palast steht hinter dem anderen auf der Nord-Südachse, gemäß der geomantischen Lehre. Da das Böse stets aus dem Norden kam, zum Beispiel der eisige Wind, die Hunnen und die Mongolen, öffnen sich Hallen und Paläste nach Süden.
Doch noch lange nicht habe ich die majestätisch wirkenden Hallen in der Ferne erreicht. Die Ausdehnung des großen Platzes vor mir ist gewaltig. Bis zu 20 000 Personen versammelten sich hier, um dem Kaiser zum Geburtstag zu gratulieren. Große Audienzen fanden zum chinesischen Neujahrsfest und zur Wintersonnenwende statt, wenn die Tage wieder länger als die Nächte wurden. Einzelne Besucher müssen sich winzig vorgekommen sein, wenn sie über den leeren Hof schritten, sich der Audienzhalle langsam näherten, die Stufen zum Drachenthron erstiegen, um dem Sohn des Himmels untertänig, mit dem Blick zum Boden gerichtet, zu begegnen.
Im strahlenden Sonnenschein wandere ich unter riesigem Himmel auf die Hallen zu. Ich komme mir auf dem großen Hof auch winzig vor, fühle mich aber großartig. Marmortreppen führen hinauf auf die dreistufigen Marmorterrassen, auf denen die drei Audienz-Hallen stehen, die Halle der Höchsten Harmonie, die Halle der Vollkommenen Harmonie und die Halle der Erhaltung der Harmonie, in denen die Banketts stattfanden. Fein geschnitzte marmorne Geländer umgeben die Terrassen. Marmorbalustraden schimmern weiß vor rotem Mauerwerk. Auf den Mauern der Bauwerke ruhen die ein- und zweistöckigen Dächer, deren ockerfarben glasierte Ziegel die Sonne reflektieren.

Ein geheimnisvolles Land öffnet seine Pforten: Chinareise - mit einem Abstecher nach Tibet
Anfang der Achtzigerjahre reiste die Autorin durch ein Land, das sich nach Jahrzehnten der Abkapselung dem Westen gegenüber gerade geöffnet hatte. Die Ära Mao Zedongs war vorüber. China befand sich im Umbruch. Die ersten Sonderwirtschaftszonen waren entstanden, kapitalistische Inseln im kommunistischen Land. Die Autorin schildert die Begegnungen mit Menschen in Zügen, auf Straßen, in Restaurants und Hotels. Sie besucht viele der großen Sehenswürdigkeiten, Zeugnisse einer der ältesten Zivilisationen der Erde. Es entsteht ein facettenreiches Bild über das Reich der Mitte, in dem der Kommunismus nur ein Teilstück ist. Der Leser erfährt in diesem Buch eine Menge über das neue und das alte China.
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