Im Land der Sonnengöttin – Reisebericht
Ein regnerischer Tag zieht herauf. Nach dem Frühstück gehe ich zur Burg von Kumamoto, die imposanteste, die ich bisher gesehen habe. Auf hohem, steinernem Sockel erhebt sich der fünfstöckige Turm. Im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wurde die Burg erbaut und 1877 in einem Krieg zwischen zwei Clans fast vollständig zerstört. Den Hauptturm errichtete man 1960 neu. Mauern und Wälle umgeben das Gelände, hohe Bäume wachsen im Park. Einer der Ginkgobäume soll dreihundert Jahre alt sein. Vor allen Dingen freue ich mich über die bezaubernde Kirschblüte, die sich hell von den dunklen Fassaden des Burgturms abhebt.
Immer wieder denke ich über eine Fahrradtour durch Japan nach. Wie unabhängig ich dann wäre! In einem Warenhaus finde ich ein passabel aussehendes Damenfahrrad mit Fünfgangschaltung. Mountain- und Citybikes gibt es noch nicht. Bessere Fahrräder, die für den Export bestimmt sind, fände ich in Tokio, hat mir der Herbergsvater erzählt. In meinem ganzen Leben bin ich immer nur auf alten Stahlrössern gefahren und bin damit zufrieden. Ich gehe zurück in die Jugendherberge und will die Sache überschlafen. Die ganze Nacht geht mir das Fahrrad nicht mehr aus dem Kopf. Ja, ich werde es kaufen und ausprobieren!
Den nächsten Morgen verbringe mit dem Kauf eines Fahrrads und eines Zelts. Ich entscheide mich für ein weißes Damenfahrrad mit Fünfgangschaltung. Es kostet dreißigtausend Yen, etwa hundertfünfzig Euro, das Nylonzelt, das ich mir aussuche, gut dreißig Euro. Eine Isomatte und ein kleiner Campingkocher vervollständigen meine Ausrüstung. Einen Schlafsack trage ich im Rucksack. Weil die Tour nur ein paar Wochen dauern wird, will ich mir kein spezielles Zubehör wie Fahrradtaschen und Werkzeug anschaffen. Mittags um dreizehn Uhr habe ich meine Sachen zusammen und fahre auf dem neuen Rad ganz aufgeregt zur Jugendherberge.
Ich lade den Rucksack, die Isomatte und das Zelt auf den Gepäckträger und bin gespannt, ob ich die Last ohne Schwierigkeiten transportieren kann. Ich drehe eine Runde auf dem Hof. Obwohl der Schwerpunkt des Gepäcks hoch über der Achse liegt, funktioniert alles wunderbar! Das hatte ich nicht zu hoffen gewagt! Die Kameratasche stelle ich in den Lenkerkorb, den ich mitgekauft habe. In einem Fahrradshop lasse ich den Sattel verstellen. Die Schraube will anfangs nicht packen. Schließlich sind alle Probleme gelöst und voller Eifer radele ich in tosendem Verkehr zur Stadt hinaus. Nichts hält mich mehr in Kumamoto. Ich bin auf großer Fahrradtour durch Japan! Ich bin begeistert! Es ist fünfzehn Uhr.
Rasant schnelle ich vorwärts, meistens im höchsten Gang. Neben dem Lärm der dicht befahrenen Straße stören mich bald die Autoabgase. Ich glaube zu ersticken, steige ab, studiere die Straßenkarte und biege in Yatsushiro ab, um landeinwärts das Kumatal hinaufzuradeln. Immer noch rasen die Autos an mir vorbei. Auf der anderen Flussseite entdecke ich eine schmale Straße, fahre hinüber und entrinne dem lebensgefährlichen Verkehr.
Bei Anbruch der Dunkelheit schlage ich mein Zelt auf einer Wiese am Fluss in der Nähe eines Örtchens auf. Ein heißes japanisches Bad wäre die Krönung des Tages! Ich laufe in den Ort und frage einen Automonteur nach dem nächsten Badehaus. Es sei eine Stunde entfernt, meint er, aber ich könne in seinem Haus duschen. „Wirklich? Sie haben nichts dagegen?“ „Kein Problem“, sagt er. Was will ich mehr? Ich hole meinen Kulturbeutel und mein Handtuch und dusche. Die Mutter des Automonteurs gibt mir einen halben Liter Milch und ein Paket Toastbrot mit auf den Weg. „Tausend Dank!“ Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Japaner kennt keine Grenzen! Immer wieder bin ich beeindruckt. Zum ersten Mal schlafe ich in meinem neuen Zelt. Billig, wie es ist, lässt es sich nicht stramm spannen und naturgemäß wird ein Einwandzelt durch Kondenswasser, das sich bildet, von innen feucht. Ob mein neues Zuhause wohl Regengüssen standhalten wird? Im Augenblick ist es mir egal. Ich bin glücklich!
Am nächsten Tag radele ich weiter das tiefgrüne Flusstal hinauf. Ich überwinde Steigungen und kämpfe gegen starke Sturmböen an, die ab und zu die Luft verwirbeln. Kurz bevor ich Hitoyoshi am Mittag erreiche, entlädt sich der erste Regenschauer. An einer Bushaltestelle stelle ich mich unter, esse Toastbrot mit Butter und Käse, trinke Milch, rauche eine Zigarette und warte, bis der Regen nachlässt.
Die Route 221 führt kurz hinter Hitoyoshi Richtung Süden zum Ebinoplateau hinauf. Im niedrigsten Gang mühe ich mich ab. Es dauert nicht lange, als der zweite Regenschauer hernieder geht. Ich raste in der Nähe einiger Lokale, schon ziemlich erschöpft. Einer der Wirte ruft mich herein und serviert mir grünen Tee und Kekse. Dann mache ich mich wieder auf den Weg.
Die breite Straße führt, wie mir scheint, nur leicht bergan, darum ist es mir unbegreiflich, warum ich andauernd schieben muss. Dauerregen setzt ein. Rechts und links der Straße gibt es nur Steilhänge oder Abgründe. Ein Plätzchen für mein Zelt ist nicht in Sicht. Schon bald triefe ich vor Nässe. Eine kühne Brückenkonstruktion schraubt sich spiralförmig die Hänge hinauf. Eine Treppe verspricht eine Abkürzung: Ich schleppe zuerst mein Gepäck in die Höhe und dann Whitie, wie ich mein neues Fahrrad getauft habe. Spaß macht das nicht! Die Flüche sitzen locker und verrauschen im Regen.
Zwei Stunden mögen vergangen sein, als ich auf einen Tunnel treffe, der sich durch den Berg bohrt. Er ist tausendachthundert Meter lang und liegt fünfhundertachtzehn Meter über dem Meeresspiegel, wie es auf einem Hinweisschild geschrieben steht. Den schwach beleuchteten Durchbruch mag ich gar nicht, aber ich weiß nicht, wie ich ihn umgehen könnte. Ich begebe mich in seinen Schlund. Wenigstens trocken ist es hier. – Am anderen Ende des Tunnels ist der Pass überwunden und in rasender Fahrt sause ich die Straße hinab. Verstreut liegen Häuser im Tal, ein Ort taucht auf. Es ist achtzehn Uhr dreißig. In einer Drogerie frage ich nach der nächsten Jugendherberge. Die sei mindestens zwanzig Kilometer entfernt, meint die Drogistin. „Wo kann ich übernachten?“ „In einem Minshuku“, sagt sie, einer Privatpension. „Ein Minshuku mit zwei Mahlzeiten kostet viertausend Yen, ohne Mahlzeiten zweitausend Yen“, teilt sie mir mit. Inzwischen hat sie mir ein Handtuch in die Hand gedrückt und ich rubbele meine Haare trocken. Sie ruft ihre etwa siebzehnjährige Tochter, die mich zum Minshuku führt: Das Haus gehöre ihrem Großvater, der gerade nicht da sei, sagt sie. Ihre kleine Schwester kommt und die beiden bereiten auf einer Gasflamme Toast mit einem Spiegelei für mich zu und reichen mir Reiskuchen, gefüllt mit Bohnenpaste, eine Spezialität Japans. Über einem Holzfeuer machen sie einen Topf Wasser heiß und gießen es in eine kleine Sitzbadewanne. Das Bad ist eine ungemeine Wohltat, weil ich durchgefroren und nass bin. Die Mädchen schlafen mit im Haus. Der Regen plätschert die ganze Nacht und auch noch am Morgen aufs Dach, es ist kein Ende abzusehen. Wir gehen hinüber ins Elternhaus der beiden und frühstücken gemeinsam mit der ganzen Familie.
„Ich reise gleich ab“, sage ich. „Die vierzig Kilometer bis zur Jugendherberge in Kirishima werde ich auf meinem Fahrrad auch im Regen schaffen!“ „Das kommt nicht infrage“, sagt der Vater, „das Wetter ist zu schlecht. Wir fahren in meinem kleinen Kombi. Es ist kein Problem, das Fahrrad zu verladen!“ Ich zücke mein Portemonnaie, um zu zahlen. „Um Himmels willen!“ Vater und Mutter schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. „Sie sind unser Gast. Wir freuen uns, dass wir helfen konnten. Ist doch selbstverständlich!“ Sie sind fast beleidigt.
Wir verladen Whitie und mein Gepäck auf der Ladefläche und trocken komme ich in der Jugendherberge an. Mit dem Fahrrad wäre ich den ganzen Tag unterwegs gewesen. Ich hätte schieben müssen, denn die Straße führte steil zum Kirishima-Nationalpark hoch! Mehrere Vulkane rund um die Ebino-Hochebene spucken und rauchen, Regen und Nebel verschlucken heute die Landschaft, die ich auf Fotos so bewundert hatte. Laut Legende ist Ninigi no Mikoto, der Enkel der Sonnengöttin Amaterasu, mit den kaiserlichen Insignien, dem heiligen Schwert, Spiegel und Edelstein, auf die Ebino-Hochebene herabgestiegen, um als erster Kaiser von Japan das Land zu regieren. Er heiratete eine Prinzessin und wurde sterblich. – Eine große, freundliche Jugendherberge nimmt mich auf. Nachmittags um sechzehn Uhr hört es auf zu regnen. Ich mache einen Gang zum Schrein des Ortes, der orangefarben durch die hohen, duftenden Bäume schimmert. Er ist Ninigi no Mikoto geweiht. Mehrere Male wurde er unter Vulkanasche begraben. Der jetzige stammt aus dem Jahr 1715.