Asien Reisen Buch - Heilige Stätten in Tibet - Reisebericht

Nach Unruhen im gesamten tibetischen Kulturraum im Olympiajahr 2008 flog ich mit Erika Nerb, einer alten Reisebekanntschaft, im Sommer 2009 von Chengdu, Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan, nach Lhasa. Trotz verschärfter Einreisebestimmungen für Ausländer überwanden wir alle Hürden, besuchten Klöster und heilige Seen und erlebten den Kailash, das „Schneejuwel“ der Tibeter, als Krönung unserer Reise.

 

Leseprobe: 

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Grauer Tag, graue Piste, graues Land! Die Pfützen spritzen hoch auf, wenn Gyeltsen hindurchprescht. An einem Weiher in der Ferne entdecken wir Schwarzhalskraniche. Mit stolz erhobenem Haupt stehen oder schreiten sie über die Hochfläche, ein Symbol langen Lebens. Wir folgen einem endlos langen Flusstal, bis wir einen Pass hinaufholpern, hinter dem der Grasteppich aufhört und sandiges Terrain beginnt. Drongpa liegt weit von der Piste entfernt am Rande einer riesigen Hochebene, die sich flach wie ein Tisch nach allen Seiten hin ausbreitet.

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Die Sonne durchbricht die Wolken und die Welt ist nach dem trübseligen Morgen wieder licht und hell. Sichelförmige Dünen durchziehen das Land, einige sind hoch und stattlich und dehnen sich aus, makellos geformt vom Wind. Dahinter zeigen sich dunkle Höhenzüge, deren Gipfel und Kämme unter einer Schneekappe liegen, der Himalaja. Ein Schauspiel für sich sind die schneeweißen Wolkengebilde, die in den tiefblauen Himmel quellen. Sie plustern sich dick auf, ewigem Wandel unterworfen. Ziegen, Schafe und Yaks zeichnen sich als zwergenhafte Flecken in der spärlich mit Grasbüscheln bewachsenen Ebene ab.

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Wir erreichen Paryang, ein tibetisches Dorf, das aus Lehmhäusern, Erdstraßen und Erdplätzen besteht. Im Tashi-Hotel, einer Herberge, gehen wir essen. Eigentlich wollten wir hier übernachten, doch es ist erst vierzehn Uhr. Obwohl Gyeltsen müde aussieht, holpert er noch sechzig Kilometer über die Rumpelpiste bis zu einer klitzekleinen Siedlung an einem Fluss. Sie besteht aus einem Haus und Hauszelten, in denen Pritschen zum Übernachten stehen. Wir ziehen das Wohnzimmer des Hauses vor. Podeste ziehen sich rund ums Zimmer, sie dienen zum Sitzen und Schlafen. In der Ecke auf einem Regal befindet sich der kleine Hausaltar. In der Mitte des Raums bullert der Ofen, die Thermoskannen sind mit heißem Wasser oder Buttertee gefüllt. Eine Toilette gibt es nicht, wir gehen hinaus aufs Feld und suchen uns ein Plätzchen unter dem weiten, tibetischen Himmel. Das Gelände rund um die Siedlung ist mit Unrat bedeckt, mit Dosen, Plastikflaschen, Pappe und Papier. 

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Wir waschen uns im Fluss, putzen uns die Zähne, stecken die Füße ins Wasser und gehen dann ins Haus. Die Familie schlachtet ein Schaf und bereitet eine Suppe mit Schafsfleisch und Nudeln zu. Mir dauert das zu lange, ich esse eine Fertigsuppe und verkrieche mich am Ende des Raums in eine Ecke zum Schlafen. Die Familie, Nachbarn, Erika, Gyeltsen und Pasang tagen noch lange. Um halb elf am Abend macht der Hausherr das von Generatoren gespeiste Licht aus. Ein Butterlämpchen brennt die ganze Nacht auf dem Hausaltar vor dem Bildnis Buddhas. Alle legen sich auf dem Podest schlafen. Bevor sich die Hausfrau zur Ruhe begibt, geht sie mit brennenden Räucherstäbchen zu jedem hin, schwenkt sie über den Köpfen und nebelt jeden von uns mit Weihrauch ein, um uns zu segnen, die bösen Geister, aber auch das Ungeziefer aus den Schlafdecken zu vertreiben. 

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In der Nacht hat es geregnet, die Spitzen der Berge sind schneebestäubt. Die Luft ist feucht und kalt. Wieder einmal passieren wir einen Checkpoint und Pasang verschwindet mit unseren Papieren im Gebäude. Ein vom Brahmaputra gespeister See kommt in Sicht. Seine Wasseroberfläche erscheint unter dem grauen Himmel dunkel wie die Nacht. Kraniche und Gazellen verlieren sich im weiten Land. Gyeltsen müht sich einen fast fünftausenddreihundert Meter hohen Pass hinauf. Jenseits dieser letzten Hürde liegt das heilige Land mit dem Kailash und dem Manasarovar-See.

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Wir fahren den Pass hinab. Gebetsfahnen bedecken ein kreisförmiges Fleckchen Erde zu Ehren des heiligen Sees. Wir umfahren die Stelle dreimal im Uhrzeigersinn und steigen aus. Pasang und Gyeltsen werfen sich zur Erde nieder. Für einen Augenblick blinkt und gleißt der See in einem Sonnenstrahl auf, dann liegt seine Wasseroberfläche wieder grau in der dunstigen Luft des Tages. Der Kailash lässt sich nicht blicken, er versteckt sein Angesicht in den Wolken.